Loading...
 
Jaromir Konecny's review of Günter Ohnemus' 'Die siebenundsechzig Ansichten einer Frau'
Print
Deutsch
Siebenundsechzig Millionen Geheimnisse des Günter Ohnemus

von Jaromir Konecny?

Kennt ihr dieses Gefühl? Ihr lest ein Buch zu Ende, haut den Blick zum Fenster hinaus, in den Himmel und wißt: Da hat sich ein Geheimnis aufgetan! Ein Geheimnis geheimnisvoller als alle Geheimnisse, die dieser blaublödelnde Himmel noch hüten könnte....

Zum dritten Mal lese ich jetzt Siebenundsechzig Ansichten einer Frau, und dieses Gefühl, dieses verflucht schöne Gefühl... es ist immer noch da. Ich habe ein Buch der Geheimnisse entdeckt: Der 67 Millionen Geheimnisse einer Frau... und eines Mannes. Günter Ohnemus pustete den Nebel weg. Jetzt kann ich für ein Weilchen wieder in den Himmel gucken. Ja, das ist der Grund, warum ich Bücher lese...

Wieder mal hat uns der Maro-Verlag mit einem hübschen Buch beschenkt. Wenn es nicht die Großen schaffen, uns etwas Hübsches zu schenken, müssen es halt die Kleinen tun. Wieder mal etwas Feines also nach diesen ganzen fetten Werken, die dir das Hirn plattwälzen sollen. Wieder mal eine Erzählinsel hier in diesem Meer literarisch unbedarfter Elfenbeinturmbewohner. Ein Mensch, der aus Freude am Erzählen erzählt! Und aus Menschenliebe! Der nicht erzählt, um sich an dem eigenen Ego (manche sagen Seele dazu) zu ergötzen. Ach, wie mir diese ganzen Spinner auf den Geist gehen, die ihre Menschenverachtung und Humorfeindlichkeit mit Spiritualität und Tiefsinn verwechseln. Aber!... Wozu diese Vergleiche? Heute ist doch Freude angesagt.

Ich kann mich auf nichts konzentrieren, wenn sie nicht da ist, und wenn sie da ist, kann ich mich nur auf sie konzentrieren. Schreibt Ohnemus. Seine Siebenundsechzig Ansichten einer Frau liegen auf dem Tisch neben meinem Rechner. Ich möchte aus dem Buch noch einen Satz herauspicken und noch einen,.. diesen da und diesen... Ich möchte sie euch alle vorführen in ihrer ganzen Schönheit... möchte flirten mit ihnen... Hmm, so kannst du kein Portrait eines Schriftstellers schreiben, Mann! Ich stehe auf vom Rechner und trage das Buch in die Küche. Dort wartet sie auf mich,.. - eine Frau im Buch. Wenn deine Zeit gekommen ist, meine Liebe, werde ich dich zurükholen. Nur noch einen einzigen Satz über dich möchte ich zitieren: Ihre Fingernägel waren so rot, daß er sie auf seinem Rücken spüren konnte. Ist es nicht an der Zeit, Freunde, daß ihr sie auch kennenlernt?

Wenn du dich in den Kellern des deutschen Literaturbetriebs tummelst, ist Ohnemus für dich schon lange ein heißer Tip. Er übersetzte Richard Brautigan kongenial ins Deutsche, und weil hier keiner Brautigan verlegen wollte, gründete Ohnemus sogar einen Verlag. Und wer gründet schon heutzutage einen Verlag, um einen Undergroundautor zu verlegen?

Olli Bopp und ich quatschten drei Stunden lang mit Günter Ohnemus in seiner Münchner Wohnung. Ich muß zugeben, daß ich mit Ohnemus gern quatschte. Obwohl er mir zuerst gar keine Fragen erlauben wollte: Zwei Tage vor dem Interview hatten meine Landsleute, die Tschechen, ihr aussichtsloses Fußballspiel gegen die Deutschen gespielt. Nach der Begrüßung sagte Olli zu Ohnemus: "Ich werde halt ein paar Fragen stellen, und wenn der Jaromir auch Fragen hat, kann er auch..."

"Das weiß ich noch nicht", sagte Ohnemus, "nachdem die Tschechen ´nen Elfmeter gekriegt haben, weiß ich das noch nicht..."

Gott sei Dank hatten die Tschechen verloren. So hat mich Ohnemus dann doch zu Wort kommen lassen. Er ist ein humaner Mensch.

Aber zurück zu Brautigan. Seinen Namen hat Ohnemus zum erstenmal Anfang der Siebziger gehört und gleich drei seiner Bücher gelesen: Forellenfischen in Amerika, In Wassermelonen Zucker und Die Abtreibung. 1974-76 lebten dann die Ohnemus in Schottland. Einmal schenkte Ohnemus einem schottischen Freund Die Abtreibung zum Geburtstag. Zwei Tage später sagte ihm der Freund: "Das ist ja ein tolles Buch! Wenn du in Deutschland bist, mußt du das unbedingt übersetzen."

Hier könnt ihr also die schottischen Einflüsse auf die deutsche Kunst ausmachen, obwohl viele Kunsthistoriker sie bestreiten würden. Und ist die Übersetzerei keine Kunst? Ohnemus Übersetzungen sind Kunst - klar doch! Schlechte Übersetzungen von Brautigan hatte es ja vorher schon in Deutschland gegeben: Zwei beim Hanser-Verlag. Da schaffte es Hanser tatsächlich, Brautigan zum Ladenhüter zu machen. Um gleich danach die Lust zu verlieren, den Underground-Typ aus Amerika weiter zu verlegen. Zum Glück! So konnte Ohnemus die Rechte bekommen. Da sich auch kein anderer Verlag für Brautigan begeistern wollte, und die Sache für Ohnemus sehr wichtig war, schickte er sich an, einen eigenen Verlag zu gründen. Das war im November 1977, und Ohnemus war 33 Jahre alt. (Vielleicht können die Kabbalisten unter euch mit den hübschen Zahlen etwas anfangen.) Der Ohnemus-Verlag wollte in Deutschland verstärkt amerikanische Autoren herausbringen. Die ersten Bücher sollten die folgenden finanzieren, doch leider ist die Rechnung nicht aufgegangen. Der Verlag ist zwar nicht gerade Pleite gegangen, doch weitermachen konnten sie auch nicht. Ohnemus packte Brautigans Bücher in den Rucksack und begab sich wieder auf die Verlagssuche. Zum Glück erklärte sich am Ende Eichborn bereit, Brautigan herauszugeben. Den Rest von Brautigans Büchern übersetzte Ohnemus also schon für Eichborn. Neben Brautigan waren im Ohnemus-Verlag erschienen: Bobbie Louise Hawkins, Gailyn Saroyan und als einziger deutscher Autor Hans Herbst (Portrait in Cocksucker Nr. 12)

Günter Ohnemus schmiß das Verlegergeschäft also hin und konzentrierte sich weiter vor allem aufs Übersetzen und Schreiben. (Sein Pech war unser Glück. Würde er jetzt so hübsche Bücher schreiben, wenn er ein bekannter Verleger wäre?) Drei Geschichten von Ohnemus druckte Alfred Miersch (Portrait in Cocksucker Nr. 13) in seinem Omnibus ab, und dort entdeckte Benno Käsmayr (Maro Verlag) den Schriftsteller Ohnemus. Na ja, die beiden hatten sich flüchtig schon von früher gekannt. 1981 aber rief Käsmayr bei Ohnemus an und fragte, ob sie ein Buch zusammen machen wollten. Und sie machten eins. 1982 erscheint bei Maro Zähneputzen in Helsinki: Richtige, schöne Erzählungen, und das gerade zur Zeit, als sich die deutsche Literatur bis zur Verkrüppelung experimentierte und sich auf dem Rollstuhl das Hirn leerwichste. Da hatten die literarischen Seelenklempner selbstverständlich keine Lust gehabt, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als damit, wie sich ein deutscher Autor fühlt und wie er an der Welt leidet. Keine Sau hat Zähneputzen in Helsinki wahrgenommen. Ohnemus dachte sich, warum solle er seine Zeit damit verschwenden, Bücher zu schreiben, die niemand lesen wolle. Elf Jahre lang hat er nichts mehr veröffentlicht. Irgendwann wollte er es aber wieder wissen. Er schrieb die Story Cape Canaveral Country Song und schickte sie an den Bayerischen Rundfunk. Anderthalb Jahre kam dann keine Antwort. Inzwischen erschien bei Maro Die letzten Großen Ferien (1993). Der Verlag hätte sich einen anderen Titel gewünscht (in der Auswahl stand Cape Caneveral Country Song), doch Ohnemus setzte sich mit dem schönen deutschen Titel durch. Nachdem das Buch in der Weichnachtsbeilage der Zeit (1993) enthusiastisch besprochen wurde, meldete sich bei Ohnemus endlich auch der Bayerische Rundfunk. Auf einmal wollten die Herren Rundfunker die Geschichte senden. Doch nun wollte Ohnemus nicht.

Und dieses Jahr dann der Knülller. Bei Maro erscheint der Hardcoverband Siebenundsechzig Ansichten einer Frau, der endlich so von den Ladentheken weggeht wie jeder guter Stoff. In kurzer Zeit mußte eine zweite Auflage herausgebracht werden. Ohnemus scheint jetzt endlich den Durchbruch geschafft zu haben. Haleluja!

Wenn du eins von Ohnemus' Büchern in die Hand nimmst, weißt du gleich, daß du zu Hause bist. Um seine Wurzeln und Lieblingsautoren macht Ohnemus keine Geheimnisse: Faulkner, Hemingway, Salinger, Sherwood Anderson... Ich fragte ihn: "Und Hammet und Chandler?.."

"Ja, auch ja, um Gottes willen!.. Ja!.. Bei uns hieß es chandlern - heute abend werde ich wieder chandlern."

"Und die Deutschen?"

"Und in der deutschen Literatur sind es Heinrich von Kleist, Theodor Storm, also die zwei waren für mich schon ziemlich wichtig, obwohl man mir den Kleist nicht mehr ansieht, aber den Theodor Storm sieht man mir schon an."

Wie es Zufälle so wollen, habe ich am Abend vor dem Interview Michaela Seuls wunderschöne Geschichte Sabrina (Nachts brennen die Betten doch, Edition Dead Monkey) gelesen, wo Michaela mit dem Thema Lügen und Geschichtenerzählen spielt. Diese Geschichte brannte noch in meinem Hirn wie ein Neutronenstern, und da fragte Olli den Ohnemus: "Wie weit darf man bei einer autobiographisch gefärbten Geschichte mit Flunkern gehen? Ich denke hier an diesen Großvater in der Story Tipp-Kick und die Schlacht am Hartmannsweilerkopf (Zähneputzen in Helsinki), wie er da oben im Baum sitzt und immer dieselbe Geschichte erzählt. Er erzählt sie aber jedesmal anders. Wie wichtig ist da also die Wirklichkeit gegenüber dem Unterhaltungswert?"

"Das ist die Wirklichkeit!" sagte Ohnemus. "Eine Geschichte immer wieder anders zu erzählen ist die Wirklichkeit. Man hat das Leben, und das ist einmal leider Gottes passiert... und dann hat man eine Geschichte. Elias Canetti, ich glaube, der war's, der hat mal was ziemlich Gutes gesagt: Daß er Leuten mißtraut, die immer die gleichen Sachen auf immer die gleiche Art erzählen. Das wäre so, als hätten sie ihre Rollen auswendig gelernt. Aber eine Geschichte lebt mit uns. Wenn Sie jetzt über das erzählen, das Sie vor 20 Jahren erlebt haben, dann ist das ganz anders, als wenn Sie es meinetwegen vor fünf Jahren erzählt haben. Aber das ist die Wirklichkeit! In dem Moment, wo Sie das erzählen, ist es die Wirklichkeit. Die Geschichte ist die Wirklichkeit."

Und da ich persönlich seit eh und je keinem Typ traue, der eine Geschichte immer gleich erzählt, lernte ich spätestens hier den Ohnemus lieben und den Elias Canetti gleich dazu (obwohl er keinen Underground schrieb!).

So weit zur Biographie... Jetzt kann ich endlich das Buch aus der Küche holen. Jetzt kann ich euch endlich zeigen, was Ohnemus über diese verdammt hübsche und elegante und weise Frau schreibt. Die siebenundsechzig Ansichten einer Frau:

Ihr Alter? Was bekommt sie zum Geburtstag? Ohnemus leitet seine achte Ansicht einer Frau gleich mit Adorno ein: Wenn einer wie Theodor Adorno sagt, daß die Leute, wenn sie jemandem etwas schenken, günstigenfalls das schenken, was sie sich selber wünschen, nur ein paar Nuancen schlechter, dann kann er das gar nicht wissen, ohne daß er zuvor einen tiefen Blick in sich selber hinein getan hat. ... Wenn man diesen Satz liest, dann schaut man Theodor Adorno beim Einwickeln seiner Geschenke zu und findet, daß er eigentlich ziemlich oft dahergeredet hat wie ein mieser, unsympathischer Klugscheißer, der den anderen nur ein falsches Leben gönnt. Ha, wie erfrischend, diese ganzen IQ-Tiere auch mal von der menschlichen Seite her zu beleuchten, statt nur von dem erkenntnistheoretischen Kram her. Da es Ohnemus aber weiter nicht besonders angenehm ist, Adorno beim Einwickeln seiner Geschenke zuzuschauen, schaut er lieber ihr zu, wie sie bei ihrem Geburtstag die Geschenke auswickelt: Das dritte Geschenk, das sie auspackt, ist ein Wecker. Sie freut sich darüber, weil sie sehr viel reist, in viele Länder, und weil es auf dem Prospekt, der diesem Wecker beiliegt, heißt: "Er funktioniert in aller Welt." Er ... habe nur eine Sekunde Abweichung in 1 Million Jahren. 1 Sekunde Abweichung in 1 Million Jahren! Sie müßte jetzt eigentlich sagen: "Was für ein primitiver Trick!" ... Aber sie weiß auch, daß verlorene Sekunden wirklich verlorene Sekunden sind, die uns am Ende abgehen. Manchmal bleibt am Schluß nicht einmal mehr genug Zeit, ein Glas Wein auszutrinken, oder ein Glas Bier, falls Sie Bier vorziehen. Und weil sie das alles weiß, und weil dieser Wecker ein Geburtstagsgeschenk ist, und weil der Mann, der ihr den Wecker geschenkt hat, sie jetzt so erwartungsvoll anschaut, sagt sie lächelnd: "1 Sekunde in einer Million Jahren! Jungejunge! Meinst du, daß ich mit deiner Uhr eine Sekunde gewinne oder verliere?"

Eine Erleuchtung hatte ich, als eine der Stimmen der Titelheldin in der Erzählung Die Feste in unserem Garten über einen älternden Schriftsteller sagte: "Alles, was ihm noch geblieben ist, das ist die Zuneigung einiger ältlicher Frauen." Ha! Ich selbst habe schon immer großkotzig dahergeredet - wie Adorno: Du müßtest unabhängig sein von der Liebe der anderen Leute. Es ist nicht wichtig, von den anderen gemocht zu werden... Jetzt frage ich aber: Warum? Was ist daran so falsch, verdammtnochmal, wenn ich will, daß ihr mich alle liebt?

Die kürzeste Kurzgeschichte des Buches heißt


Marmorgewitter

"Suche dir eine Sache, für die es sich zu sterben lohnt", sagt er. "Und stirb dafür."

Und sie sagte nur: "Ha!-ha!-ha!"


Jungs! Wißt ihr eigentlich, wer hier mit er gemeint ist? Na, ich! - selbstverständlich!

Obwohl eine der schönsten 'Ansichten' von Ohnemus, Rehspuren, recht kurz ist, werde ich sie nicht zitieren, die müßt ihr selbst lesen. Auf jeden Fall habe ich hier auf einer halben Seite mehr übers Leben erfahren, und über Literatur!, als in allen gelehrten Traktaten der deutschen Literaturkritiker zusammen. (Obwohl Ohnemus in der Story statt Ficken Bumsen schreibt, das mir doch schon etwas zu altmodisch vorkommt... Bah! Jetzt ist's wieder raus. Wie hätte ich aber das umgehen sollen? Schon letztesmal nach meiner dandelion-Kolumne hat mich Friederike in einem Brief ziemlich getadelt. Sie schrieb: "Lieber, verehrter Jaromir, schade, daß Du Dir Deine gelungenen Gedankengänge immer wieder selbst kaputt machst. Es braucht meiner Meinung nach einer besonderen Begabung über so viele Seiten gedruckt, seine Frustrationen auszuspeien..." Sie hat ja so recht, die Friederike! Verdammtnochmal! Warum mache ich bloß immer meine Texte mit diesem einem dummen Wort kaputt? Warum muß ich doch ständig Ficken schreiben? Hmm... Diese meine Macke ist wirklich einfach zu erklären: Ich schreibe Ficken, weil ich halt Vögeln bei Lesungen nicht aussprechen kann - wegen dieses Scheißumlauts. Ihr wißt ja, ich bin Tscheche.)

Ohnemus ist in seinen Geschichten nicht nur menschlich, er kann auch politisch werden. Zum Beispiel wenn er über die Demokratie meditiert. Sie ist für ihn eine große elegante Frau mittleren Alters: "... und wenn ich jetzt sage, daß die Demokratie für mich immer auch sehr lange Beine gehabt hat, dann werden mir das einige Verfassungspatrioten sicher sehr übelnehmen."

Aber auch an die ewigen Autobiographisten denkt der Herr Ohnemus. Ihnen liefert er mit Etruskische Friedhöfe eine Geschichte, bei der sie endlich sagen können: "Aha! Dann ist das ganze Buch doch autobiographisch!" Ihr glaubt's mir vielleicht nicht, aber es gibt Leute, die denken, wenn etwas einen autobiographischen Schein trägt, sei das keine Literatur. Nein! Auf keinen Fall! Die Literatur darf nicht authentisch sein! Was soll ich dazu sagen? Manche Kritiker loben sogar Autoren, di über etwas schreiben, was im zweiten Weltkrieg oder im sechzehnten Jahrhundert passiert sein sollte: "Ach, dieser Ausbruch an Phantasie!" - Hmm, wie phantasielos! Literatur darf selbstverständlich alles sein - nur nicht langweilig. Das wußte schon Voltaire. Außerdem gibt es keine authentischen Geschichten. Nur Roboter würden eine Story so nacherzählen, wie sie tatsächlich passierte... - wenn sie erzählen könnten. Es gibt aber das Stilmittel, einer Geschichte einen authentischen Mantel anzuziehen. Bukowski schrieb so und nannte diesen Stil autobiographische Fiktion. Schon Dostojewskij hatte so geschrieben und Hamsun und Céline und Henry Miller und John Fante - also keine schlechte Gesellschaft.

Und warum interessiert es viele Leser, ob der Autor eine Geschichte tatsächlich so erlebte, wie sie im Buch steht? Wenn mich das jemand fragt, muß ich ihm wieder eine Geschichte erzählen. Bei so einer Geschichte würde mein Großvater sagen: "Du lügst wieder, daß es von deinem Mund staubt!" Wenn er noch lebte. Das Traurige ist, ich habe keinen von meinen Großvätern kennengelernt. Sie sind beide vor meiner Geburt gestorben. Doch manchmal erzähle ich über sie. Ganz authentisch.

Weil also die 'Ansicht' Etruskische Friedhöfe sehr 'autobiographisch' ist (machen wir es halt den Autobiographisten recht - sie sind doch auch nur Menschen wie du und ich), tritt dort auch die Frau auf, mit der der Ich-Erzähler (also nicht der Autor! - so gefällt's wieder mir besser) mehr von der Welt gesehen habe als mit jedem anderen Menschen. Und Leute! Diese Frau ist so unaufdringlich weise, daß ich mich in sie glatt verliebt hätte, wäre ich nicht anderswo verliebt. Bei einer Bahnreise erzählt sie einem etwa fünfzigjährigen Ehepaar - ein Studienrat und eine Studienrätin - etwas über junge Männer und Hasen, was sie noch nie gehört haben: "Die jungen Männer mußten das Verfolgen und Fangen von Hasen lernen. Und Sie wissen ja, daß das ziemlich schwierig ist, falls Sie schon einmal versucht haben, einen Hasen zu fangen... Aber das war nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war, daß die jungen Männer lernen mußten, sich in die Landschaft einzufügen wie ein Tier." Nachdem Ohnemus das Staunen der beiden Studienräte über ihre Bildungslücke beschreibt, schreibt er noch einmal beiläufig: Ach ja, ich glaube, die Demokratie ist doch eine große elegante Frau, die viel von der Welt mitbekommen hat. Während unseres Interviews hat uns auch Frau Ohnemus kurz begrüßt: Eine hübsche große elegante Frau... Ich weiß nicht, ob sie viel von der Welt mitbekommen hat, eigentlich sieht sie ganz jung und frisch aus, aber auf jeden Fall hat sie mit ihrem Mann zusammen Den konföderierten General von Brautigan übersezt, und das spricht für sich selbst... Doch forschen wir noch weiter. In der vierunddreißigsten 'Ansicht' Striptease schreibt Ohnemus noch mal über die Lebensgefährtin des Ich-Erzählers: Ich schaute zu ihr nach oben. Sie hat sehr lange Beine, die in den engen Jeans, die sie anhatte, noch länger aussahen. Also, Freunde, ihr seht, ich selbst werde langsam ein Autobiographist. Ist das Buch am Ende nicht über?.. Hmm, hmm... Überlassen wir doch diese Deutungen den Tiefenpsychologen.

Jetzt bin ich aber ganz traurig. Hab so lange mit den Geschichten des Günter Ohnemus gespielt, daß mir kein Platz mehr übrig bleibt, euch ausgiebig mit seiner Sprache zu erfreuen, mit noch mehr von seinen schönen Sätzen: ...und weil man ja auf dem Tennisplatz nicht brüllen kann, auch nicht vor Glück, weil man ja sonst den anderen demütigen würde, hatte er nach dem Match das Gesicht in sein Handtuch vergraben und still und lautlos gebrüllt, so laut er nur brüllen konnte. Was meint ihr also? Wollt ihr nicht selbst mit den Sätzen des Günter Ohnemus spielen, bis ihr vor Freude brüllt, still und lautlos, so laut ihr nur brüllen könnt?

Bei unserem Besuch sagte Ohnemus: "Ich wollte ein Buch schreiben, daß irgendwie so ist wie ein richtiger Sommertag." Und das ist ihm, Gott weiß, gelungen: Ein Roman einer Frau in 67 Geschichten. Ein Roman wie ein Sommertag. Mit eigenartig schönen Sätzen darin. Wenn du manche von ihnen laut liest, dann weißt du: Der Herr Ohnemus, der mag Musik.


Cocksucker? Nr 17. Winter 1996/97
Online Source: http://rezensionen.literaturwelt.de/content/buch/o/t_ohnemus_guenther_die_siebenundsechzig_ansichten_einer_frau_jako_12519.html(external link)